Das dritte Team auf dem Platz

Foto von Julia Taubitz auf Unsplash

Die Beispiele, in denen ein Team in der Geschäftswelt mit einem Team auf dem Sportplatz verglichen wurde, dürften nicht mehr zählbar sein. Auch ich verwende diese Metapher häufig. Wie viele Vergleiche hat sie in der jeweiligen Situation Vorzüge und Mängel.

Mit diesem Artikel bediene ich mich einmal mehr beim Fußball. Doch eins ist diesmal anders. Heute verwende ich den Sport nicht als Metapher, sondern schildere ein Beispiel, das exakt zeigt, wie ein Team in der Geschäftswelt funktionieren sollte.

Bayern gegen Bayer - Was ist geschehen?

Es geht um das Spiel Bayern München gegen Bayer Leverkusen am vergangenen Wochenende (19.03.2023). Die für meine Geschichte wesentlichen Punkte schildere ich unten. Wer die Zusammenfassung als Video sehen möchte, findet sie derzeit bei tagesschau.de und auf Youtube.

Folgendes ist geschehen: Bayern München geht in der 22. Minute mit 0:1 in Führung und nimmt sie mit in die Halbzeitpause. Nach dem Seitenwechsel kommt der Leverkusener Spieler Amine Adli im Strafraum der Bayern zu Fall. Schiedsrichter Tobias Stieler gibt keinen Strafstoß, sondern erkennt eine Schwalbe und verwarnt den Spieler mit einer gelben Karte. Es folgen heftige Proteste von Adli und dem Leverkusener Team. Dann fordert der Video-Assistent den Schiedsrichter auf, die Szene am Monitor zu prüfen. Stieler ändert seine Meinung, zieht die gelbe Karte zurück und entscheidet auf Elfmeter für Bayer Leverkusen. Es steht 1:1.

In der 72. Minute wiederholen sich die Ereignisse. Wieder fällt Adli im Strafraum. Wieder entscheidet Tobias Stieler gegen ihn. Wieder gibt er eine gelbe Karte. Wieder bittet der Video-Assistent den Schiedsrichter an den Monitor. Und wieder revidiert dieser seine Entscheidung. Keine gelbe Karte, Elfmeter für Leverkusen. Spielstand 2:1 für Bayer Leverkusen. Mit diesem Endstand verliert München an diesem Spieltag die Tabellenführung.

Wie würde man in Deiner Firma mit so einem Verlauf umgehen?

Bevor ich mit der Beschreibung des Spiels fortfahre, ein Einschub zur Reflexion. Nimm Dir eine oder zwei Minuten Zeit, um die folgenden Fragen zu beantworten und Stichpunkte zu notieren.

  • Was denkst Du, wie bewertet Bayer Leverkusen nach dem Spiel die Schiedsrichter-Leistung?

  • Wie bewertet Bayern München nach dem Spiel die Schiedsrichter-Leistung?

  • Wie bewertet Tobias Stieler nach dem Spiel die Schiedsrichter-Leistung?

Nun übertrage die Situation auf Deine Arbeitswelt, und Du schlüpfst in die Rolle von Tobias Stieler. Vergegenwärtige Dir die Lage. Eine Entscheidung im Sekundenbruchteil. Große Aufmerksamkeit von zehntausenden Zuschauern. Im Spiel geht es um etwas. München verliert die Tabellenführung in der ersten Fußball-Bundesliga. Das kann u.U. auch mit erheblichen finanziellen Einbußen einhergehen.

Stell Dir vor, Du liegst bei einer Ermessensentscheidung im Rahmen Deiner Arbeit in vergleichbarer Weise zweimal daneben. Im Rampenlicht. Stell Dir vor, eine Kollegin oder ein Kollege macht Dich darauf aufmerksam, so dass die negativen Auswirkungen Deiner Entscheidung nicht zum Tragen kommen.

Welches Feedback würdest Du in Deiner Firma bekommen? Wie würdest Du Deine eigene Leistung einschätzen? Vergleiche Deine Antworten auf diese Fragen mit den Antworten auf die obigen Fragen.

Und so geht die Geschichte weiter:

Das Interview

Der lehrreiche Teil der Geschichte folgt erst noch: Das Interview nach dem Spiel. Im Sportschau-Interview bezieht Tobias Stieler Stellung zu seiner Arbeit. Hier einige der bemerkenswerten Aussagen (gekürzte Mitschrift von mir):

Sportschau: War das als Schiedsrichter heute eine besonders schwer zu leitende Partie?

Stieler: Phasenweise Ja. […] Zweimal lag ich auf dem Platz falsch. Zweimal wurde ich dankenswerterweise und ganz großartig vom Video-Assistenten unterstützt und gerettet. Und am Ende [auch] das Spiel […] gerettet, sonst würden da zwei Fehlentscheidungen stehen bleiben.

Sportschau: Wie haben Sie [die beiden Situationen] empfunden?

Stieler: Weiterspielen war für mich nie eine Option. Entweder ist es ein Strafstoß oder eine Schwalbe. Für mich deutete viel mehr auf [eine] Schwalbe hin. Aufgrund von Fallmustern und von “nicht Kontakt gesehen”. Da lag ich zweimal daneben.

Sportschau: Wie schwer ist es […] dann, zu sagen, ich lag falsch?

Stieler: Überraschenderweise gar nicht. […] Mir geht es ja um die richtige Entscheidung. Und wenn ich zweimal falsch gelegen habe, da habe ich überhaupt kein Problem damit, mich zu korrigieren. […] Was zählt meine Meinung? Ich will das richtig machen.

Sportschau: Ist das [heutige Spiel] ein Beispiel dafür, dass [der Video-Beweis] den Sport fairer macht?

Stieler: Er macht den Sport gerechter. […] Überraschenderweise habe ich heute als Feedback von den Spielern bekommen - von beiden Mannschaften - die haben gesagt: “Gut gepfiffen!” Jetzt würde ich natürlich als “Schiedsrichterexperte” sagen, ich habe zweimal daneben gelegen, da kann ich nicht richtig gut gepfiffen haben. Aber da gehört ein Team dazu. Das Team ist immer auch der Video-Assistent. Und das hat super funktioniert. Und in dem Zusammenspiel, da haben wir gut und vor allem auch schnell gearbeitet. Und da muss man sagen, dann war es gut. An den Stellschrauben muss ich noch ein bisschen arbeiten.

Vergleiche diese Auszüge aus dem Interview mit Deinen Antworten auf die drei Fragen aus der obigen Übung. In welchem Verhältnis stehen Deine Antworten und die Aussagen des Interviews zueinander? Entsprechen sie sich? Weichen sie voneinander ab? In welcher Weise?

Mein Fazit

Welche Muster und Verhaltensweisen von erfolgreichen Teams kann man hier ablesen?

  1. “Fehler” ist nicht gleich “Scheitern”. Herausragende Teams unterscheiden zwischen einem Fehler und dem Scheitern. Bei dem geschilderten Fußballspiel kann ich nicht erkennen, dass Tobias Stieler einen Fehler gemacht hat. Er hat etwas beobachtet, interpretiert und hat eine Entscheidung getroffen. In kurzer Zeit. Sehr professionell. Er hat die Gelegenheit genutzt, die Entscheidung zu prüfen, und er hat sie revidiert. Sehr professionell.

  2. Das Team ist für das Ergebnis verantwortlich. Herr Stieler weist richtigerweise darauf hin, dass der Entscheidungsprozess funktioniert hat. Ich würde sagen, lehrbuchmäßig. Wozu brauchte man einen Video-Assistenten, wenn er den Schiedsrichter niemals unterstützen sollte? Dass der Assistent hier zur richtigen Entscheidung beiträgt, ist also kein Zeichen für einen Fehler (des Schiedsrichters), sondern für einen Erfolg (des Teams).
    Tobias Stieler sagt genau das: Hier handelt ein Team. Dass der Schiedsrichter so stark im Fokus steht, ist eher eine Schwäche von uns Zuschauern.
    In der Arbeit mit Teams, die ich begleite, arbeite ich immer wieder an diesem Teamverständnis. Es ist absolut essentiell, das richtig hinzubekommen.

  3. No-blame culture. Es fällt Herrn Stieler gar nicht schwer, einzuräumen, dass die erste Entscheidung falsch war. Hier spielt wieder das Verständnis von Teamwork eine Rolle (siehe oben).
    In der Arbeit mit meinen Kunden beobachte ich immer wieder, dass es Managern und Mitarbeitern nicht leicht fällt, derartige Dinge einzuräumen. Viele Unternehmen besitzen eine Kultur, in der Scheitern nicht oder nicht ohne Gesichtsverlust möglich ist. Das ist ein ernstes Problem.
    Dass es Tobias Stieler im öffentlichen Fußball so leicht fällt, spricht aus meiner Sicht sehr für ihn. Denn er agiert hier in einer Kultur, die es ihm schwer macht. Schuldzuweisungen (blaming) sind hier an der Tagesordnung. Schaut man sich die Kommentare unter dem Youtube-Video an, ist leicht zu sehen, dass es Menschen gibt, die gerne mit dem Finger auf andere zeigen und Scheitern als persönlichen Fehler ansehen. Wenn Du in einer Unternehmenskultur arbeitest, in der es so zugeht, wie in den Youtube-Kommentaren, liegt ein schwerwiegendes Defizit vor, an dem man arbeiten sollte.

  4. Scheitern als Voraussetzung für Lernen. Stieler erkennt das Scheitern als Gelegenheit zu lernen (“An den Stellschrauben muss ich noch ein bisschen arbeiten.”). Genau dafür ist Scheitern da.

  5. Feedback für das Verhalten, nicht für das Ergebnis. Bemerkenswerterweise sagt Tobias Stieler im Interview, dass er von beiden Teams positives Feedback bekommen hat. Ein Scheitern im Einzelfall sagt nämlich nichts über die Gesamtleistung aus. Wenn mir als Koch ein Ei auf den Boden fällt, bin ich kein schlechter Koch. Wenn ich statt des Nagels in der Wand meinen Finger mit dem Hammer treffe, bin ich kein schlechter Handwerker. Es handelt sich lediglich um Beispiele dafür, dass mal etwas daneben gehen kann. Für mich ist es eine angenehme Überraschung, dass Herr Stieler eine positive Rückmeldung aus beiden Lagern bekommen hat; auch von den Spielern, die mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein können. Das spricht für die sportliche Haltung der Mannschaften.

Wenn wir unseren Teams im Geschäftsleben kein Scheitern erlauben, werden die Teammitglieder in Stockstarre verfallen und “bloß keinen Fehler machen”. Sie werden alles, was schief geht, unter den Teppich kehren oder als “so wollten wir das haben” im Nachhinein umdeklarieren. Sie werden den Kolleginnen und Kollegen nicht trauen und sich den Rücken freihalten. Sie werden auf andere, die mal Scheitern, mit dem Finger zeigen, um selbst besser dazustehen. Für all das werden sie einen nennenswerten Teil ihrer Energie verwenden. So tötet man jede Innovationskraft und Eigeninitiative. In unseren herausfordernden und komplexen Zeiten brauchen wir jedoch beides mehr denn je. Die Geschichte von Tobias Stieler und seinen Kollegen ist ein Lehrstück in erfolgreicher Teamkultur.

Ich werde Tobias Stielers Vorbild folgen und mich zukünftig an diese Geschichte erinnern, indem ich sage: "Nimm's sportlich!"

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Kutura entwickelt eine starke Unternehmenskultur für und mit starken Teams, in denen Menschen lernen und wachsen, aus Scheitern lernen und zusammenhalten. Wir setzen dazu vielfältige Methoden, von Agile Leadership bis Management 3.0, ein.

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Warum geht man die Agile Transformation nicht mit den Methoden des Change Managements an?

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